Der mutmaßliche Täter von Magdeburg war vor allem im digitalen Raum vernetzt. Die Geschehnisse können in Bezug auf Onlineradikalisierung und ideologisch-motivationalen Hintergrund des Tatverdächtigen auch in ihren Bezügen zu den Taten von Halle und Hanau analysiert werden.
MDR AKTUELL: Durch Ihre Arbeit in der Fachstelle Gewalt- und Radikalisierungsprävention in Sachsen-Anhalt kannten Sie Taleb A. bereits. Warum?
Hans Goldenbaum: Ja, bei uns hat's geklingelt, als die Informationen zum Täter kamen und auch der Name letztlich rauskam. Der war uns als randständige Figur in dem, was wir Filterblase des digitalen globalen Rechtsextremismus nennen, ein Begriff. Wir kannten ihn aufgrund seiner Agitation insbesondere online in sozialen Medien im Bereich anti-islamischer und auch migrationsfeindlicher Diskurse der transnationalen Rechten. Er hat dort nicht nur Inhalte rezipiert, sondern auch aktiv Inhalte beigesteuert. Wir beobachten auch die Polarisierung zwischen militantem Rechtsextremismus und militantem Islamismus und in dem Kontext war er für uns am Rande relevant.
Ist das für Sie ein besonderer Fall? Wie würden Sie das Weltbild des Mannes beschreiben?
Ganz klassisch. Es gibt sicherlich einige besondere Elemente aufgrund der Biografie. Aber im Kern hat er Ideologeme dieser globalen digitalen Vergemeinschaftung im Bereich des Rechtsextremismus geteilt: der angebliche sogenannte große Austausch, die angebliche Islamisierung, andere Elemente der klassischen Verschwörungsideologie, und dass man annimmt, alles sei gesteuert. Presse sei gesteuert, politisches Handeln. Das sind so Chiffren in diesem Milieu. Und wir sehen bei ihm stark und über Jahre hinweg, wie er an diesem Diskurs, an dieser digitalen Vergemeinschaftung teilgenommen hat, wie er diese Inhalte übernommen hat, bei X, ehemals Twitter, retweetet, aber auch eigene Inhalte beigesteuert hat – insbesondere im Kontext antiislamischer Agitation.
Wie gut war der Mann vernetzt?
Was sicherlich nicht stimmt ist, dass er konkret, analog, stark vernetzt wäre. Also er war offenbar Unterstützer, Sympathisant der AfD, aber dass er sich mit den Leuten getroffen hat, das denke ich nicht. Das wäre auch unwahrscheinlich von der Täterstruktur her. Was man aber sagen kann ist, dass er im digitalen Raum sehr wohl stark vernetzt war. Und das ist ein Phänomen, das wir in den letzten Jahren zunehmend beobachten, weshalb wir in allen extremistischen terroristischen Gewaltformen eine stärkere Einzeltäterproblematik haben. Dass Menschen online eine Gemeinschaft finden, die sie bestätigt, an deren Diskursen sie partizipieren können, wo sie teilweise auf Menschen stoßen, die sie unmittelbar zur Tat motivieren und wo sie dann aufgrund von individuellen Faktoren irgendwann zur Tat schreiten.
In diesen digitalen Räumen dichten sie sich, genau wie beim Tatverdächtigen jetzt in Magdeburg, mehr und mehr gegen Einflüsse von außen ab, gegen andere Informationen. Dort kommen auch andere Akteure ins Spiel, auch rechtsextreme Akteure, auch Akteure aus der AfD.
Aber diese Akteure wiederum nutzen seinen Fall nun als Beleg dafür, dass sie Recht hätten – weil er selbst ein Zugewanderter ist?
Das Paradoxe an der Situation ist wirklich, dass das eigentlich diejenigen sind, die vom Tatverdächtigen in Magdeburg über die letzten Wochen und Monate aufgegriffen und reproduziert wurden. Er hat sich positiv auf genau die bezogen: auf Elon Musk, auf Naomi Seibt, auf die AfD. Und die gleichen Akteure sind jetzt die, die über den Anschlag in Magdeburg als einen migrantisch-islamistischen Anschlag sprechen.
Da zeigt sich die Wirkmacht dieses rechtsextremen Diskurses und wie abgedichtet er gegen die Realität ist. Und das führt natürlich auch wieder zu unmittelbaren Problemen bei uns, weil wir beispielsweise in Sachsen-Anhalt und Magdeburg in den letzten Stunden von sehr vielen Übergriffen auf Migranten und auf vermeintliche Muslime gehört haben, die auf der Straße von Leuten angegriffen werden, bespuckt werden, teilweise geschlagen werden – mit der Logik: Ihr seid doch solche wie die, die diesen Anschlag begangen haben. Und da schließt sich dann gewissermaßen der Kreis.
In Bezug auf die Tat sprechen Sie von Rache, nicht von Anschlag oder Attentat oder Amok. Warum?
Das würde ich ableiten aus seiner Agitation in den letzten Tagen und Wochen. Dass er in einem Interview, welches er einer rechtsextremen Plattform in den USA gegeben hat, sehr stark abzielt auf seine persönliche Gekränktheit, Verletztheit und eben von dieser von ihm wahrgenommenen Verfolgung durch den deutschen Staat und die deutsche Gesellschaft. Er macht den Deutschen Vorwürfe, Flucht, Migration, Asyl zum Beispiel für Syrer zugelassen zu haben. Man merkt, dass er sich von dem deutschen Staat, der deutschen Gesellschaft angegriffen und gekränkt fühlt, weil die liberal und weltoffen ist.
Jemand flieht aus Saudi-Arabien, weil er sich dort bedroht fühlt, nach Deutschland. Was motiviert den, sich dann später gegen die deutsche Gesellschaft zu wenden?
Wir haben natürlich einmal die Geschichte eines Menschen, der emigriert ist, der geflüchtet ist, der auch sicherlich keine schönen Erfahrungen gemacht hat. Er hat wahrscheinlich Repressionserfahrung, weil Saudi-Arabien einfach eine menschenrechtsverletzende Diktatur ist. Er ist dann emigriert, nach Europa, nach Deutschland gekommen. Wir sehen sehr starke paranoide Züge, eine wahnhafte Wahrnehmung verfolgt zu werden: in Deutschland nicht unbedingt nur vom saudi-arabischen Geheimdienst, sondern auch vom deutschen Staat, vom deutschen Geheimdienst, der deutschen Polizei. Das sind sehr klare paranoische, verschwörungsideologische Elemente, wie wir sie zum Beispiel auch beim Täter von Hanau hatten.
Wenn ich dann noch der Meinung bin, dass hier diese Prozesse ablaufen – Islamisierung, Überfremdung, der große Austausch etc. – und ich mich und mein Ideal dadurch bedroht sehe, dann erhöht das erstmal Handlungsdruck. Und dann haben wir diese Beteiligung an einem Diskurs, der sagt, die deutsche Gesellschaft und der deutsche Staat, der habe es nicht anders verdient. Das haben wir auch im Bereich des Rechtsextremismus, teilweise auch von Akteuren aus Parteien. Dass man da sagt: Die deutsche Gesellschaft hat Gewalt verdient, weil sie so liberal ist, weil sie so offen ist.
Gehört nach alldem das Geschehen in Magdeburg für Sie in eine Reihe mit Halle und mit Hanau?
Ja, das würde ich schon so sehen. Das sind Taten, bei denen wir merken, dass der Täter in welcher Form auch immer ein geschlossenes Weltbild hat, ein extremistisches Weltbild hatte. Und die Möglichkeit eines psychischen Ausnahmezustands, von psychischer Labilität, psychischer Störung.
Meistens müssen mehrere Faktoren der Ideologie, der psychischen Konstitution und auch emotionaler, psychischer Momente zusammenkommen. Aber das darf man nicht gegeneinander ausspielen, weil es zusammenhängt und weil am Ende die Entscheidung zur Tat und auch die Opferauswahl ja trotzdem ideologisch begründet ist.
Es ist beides, das wahrscheinlich zur Tat geführt hat. Aber ohne die Ideologie wäre das Ziel vielleicht anders gewesen, wäre der Ablauf anders gewesen. Ohne bestimmte andere Faktoren oder ohne einen psychischen Ausnahmezustand wäre er vielleicht nicht zur Tat geschritten, sondern hätte weiter online agitiert. Und das ist eine ganz eindeutige Parallele zu den Taten beispielsweise von Hanau und von Halle.